Buchcover zu Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten
Der »Heros« in neuer Übersetzung – empfehlenswert!
6. Januar 2023
Buchcover von Andrea Giovene, Fremde Mächte
Giovenes »Autobiographie des Giuliano di Sansevero. Fremde Mächte« – Leseempfehlung
28. August 2023

Fantasy – das Genre der unbegrenzten Möglichkeiten

Was macht das Genre Fantasy eigentlich aus? Was ist sein Erfolgsgeheimnis?

Es dürfte wenige Menschen hierzulande geben, die mit dem Buch- und Filmtitel Der Herr der Ringe nichts anfangen können. Die meisten werden auch eine Vorstellung von Game of Thrones und Harry Potter haben. Aber nicht nur die drei Buchreihen von J. R. R. Tolkien, George R. R. Martin und Joanne Rowling haben das Genre Fantasy zu einem der meistgelesenen auf dem Buchmarkt gemacht: Zeitgenössische Autorinnen und Autoren von Lord Dunsany bis Ursula Le Guin und aktuelle Erfolgsschriftstellerinnen und -schriftsteller wie Cornelia Funke oder Bernhard Hennen zeigten und zeigen, dass ein großes Publikum sich gerne auf die Fantasy-Welten von Macht und Magie einlässt.

Die Drachen aus Games of Thrones, die Zauberer bei Tolkien und die Magier-Schule von Rowling weisen schon darauf hin, dass das Übernatürliche in Form des Magischen und der Verzauberung das wichtigste Merkmal der Fantasy ist. Dann aber wären eine ganze Reihe von Werken der Dichtkunst selbst gänzlich zur Fantasy zu zählen, da sie sich des Übernatürlichen als eines zentralen Themas bedienen: Ovids Metamorphosen, Chaucers Canterbury Tales, Miltons Paradise Lost oder Goethes Faust erfüllen dieses Kriterium. Diese Genrevorläufer sind allerdings zu einer Zeit entstanden, als noch nicht klar war, wo genau die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen zu ziehen ist. Das Übernatürliche ist noch heute eine Frage des Glaubens oder Nichtglaubens. Das ist zu berücksichtigen, bevor man die Bibel oder den Koran zur Fantasy zählt.

Üblicherweise entstehen Fantasy-Werke vor dem Hintergrund eines sicheren Wissens darum, dass es sich bei Mittelerde und Hogwarts um Erfindungen handelt. Weshalb sich zunächst nur festhalten lässt, dass es sich bei Fantasy um Geschichten handelt, deren zentraler Inhalt die Annahme des faktischen Vorhandenseins und Wirkens metaphysischer Kräfte oder Wesen ist. Um genuine Fantasy sein zu können, muss die erzählte Geschichte auch als Fiktion erkennbar sein und nicht mit dem Anspruch auf externe Wahrhaftigkeit auftreten, wie religiöse Schriften es tun. Fantasy ist also etwas, das als Fiktion auftritt und als Fiktion auch verstanden werden soll und muss.

Trotzdem muss Fantasy einen Anspruch auf innere Wahrhaftigkeit erfüllen. Was die Autorin, der Autor erzählen, ist innerhalb der Geschichte wahr, die Storys sind ernst gemeint. Und das gilt sogar (und vielleicht besonders) für ironisch-sarkastische Werke wie die Bücher von Terry Pratchett und die von ihm erfundene Scheibenwelt. Erst dadurch, dass die Erzählung sich selbst ernst nimmt als Bericht eines dramatischen Geschehens, erzielt sie ihre Wirkung. Das Publikum der Fantasy nimmt die Inhalte der Geschichten im vollen Bewusstsein ihrer Märchenhaftigkeit auf, und darin entfaltet sich der Sinn der Genrewerke. Die Anwesenheit des Übernatürlichen als Faktum sorgt für die Verzauberung und die, von einer empirischen Warte aus gesehene, Irrealität der Erzählungen. Diese weist darauf hin, dass es neben der physischen Realität unseres materiellen Universums – zumindest der Idee und den Glaubensrichtungen nach – noch etwas anderes gibt. Etwas, das jeder Mensch für sich und nach eigenen Bedürfnissen füllen kann. Im Rahmen der Fantasy entsteht auf dieser Grundlage eine affektive Beziehung von Erzählung und Publikum, der die Vielzahl der möglichen subjektiven Bedeutungen entspringt, die – neben der Unterhaltungsqualität – als eine Erklärung für die Attraktivität der Gattung dient. Die Bereicherung kann dabei von unterhaltender Träumerei bis zum Gewinn umfassender subjektiver Sinnstiftung reichen. An einem Ende dieser Skala mag auch der nüchternste Charakter ab und an ein bisschen mit der Realität spielen wollen und Magie und Drachen in Form eines zweistündigen Films zur Entspannung nutzen. Am anderen Ende der Skala ist möglicherweise aus Anlass der Rezeption von Fantasy ein ganzes Leben durch bestimmte ethische Anstöße hin neu ausgerichtet worden.

Wie soll es nun aber dazu kommen, dass die Wolkenkuckucksheime des Genres bei seinem Publikum Nachdenken bis hin zu Verhaltensänderungen auslösen? Schließlich kann kaum etwas weiter von unserer Realität entfernt sein als fliegende Pferde und ähnlicher Firlefanz. Doch gerade die fliegenden Pferde sind ein schönes Beispiel für die Art und Weise wie das Genre notwendigerweise der Realität verhaftet bleibt. Wir wissen, dass Pferde nicht fliegen, aber wir wissen auch, was dieses Tier ist und was das Fliegen ist. Kein Topos der Fantasy und nichts, was in ihr erscheint, ist ohne Beispiel in der Realität. Die Fantasy benutzt all den Zauber, den sie auffährt, metaphorisch. Jedes Monster und jede Göttin stehen für einen Aspekt des realen Lebens und sind der Realität in verfremdeter Form entnommen. Aspekte, die in der Regel durch Übertreibung oder Überhöhung von Umständen, Akteurinnen und Akteuren oder Ereignissen etwas ansprechen, das wir alle aus dem täglichen Leben kennen und begehren, fürchten, verachten, lieben usw. Es sind jedenfalls Bilder und Themen, die uns helfen, uns in unserem Leben selbst zu verorten. Die große Ursula Le Guin schrieb einmal:

»Ein Wissenschaftler, der in seinem Labor ein Monster erschafft, ein Bibliothekar in der Bibliothek von Babel, ein Zauberer, der beim Sprechen eines Zauberspruches versagt, ein Raumschiff, das auf seinem Weg nach Alpha Centauri verschollen geht – all diese Dinge sind präzise und fundamentale Metaphern für die menschliche Existenzweise. Der phantastische Erzähler (…) spricht nicht weniger ernsthaft als jeder Soziologe – und manchmal sehr viel deutlicher. Phantastische Literatur dreht sich um das menschliche Leben; darum wie es gelebt wird, wie es gelebt werden könnte, wie es gelebt werden sollte.«

The Language of the Night, New York 1979, Seite 58; übersetzt vom Autor des Beitrags.

Neben der Unterhaltungsfunktion, die Fantasy immer auch hat – die aber auch die klassischen Sagen von Odysseus bis Siegfried schon erfüllten – ist es die Metapher, die den Wert des Genres ausmacht und die letztlich mindestens genauso zu seinem Erfolg beitragen dürfte wie die Spannung in den Geschichten. Psychologische, politische und sozialkritische Analysen bedürfen natürlich der rationalen Reflexion, aber Geschichten rühren emotional an und dringen dadurch tiefer ins Bewusstsein des Publikums. Zahlen müssen wir nüchtern nachvollziehen, aber den scheiternden Zauberer können wir nachempfinden, weil wir alle wissen, was es heißt, an etwas zu scheitern. Und das Mitempfinden von Dingen und Umständen ist es, was das Publikum ins Genre zieht.

Die Fantasy ist das Genre der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie können als Autorin oder Regisseur alles erzählen, was die realistische Literatur auch erzählen kann. Und Sie haben dafür die riesige Schatzkiste aller Mythen des menschlichen kulturellen Erbes zur Verfügung, um Ihre Erzählung zu erweitern, zu verfeinern, noch deutlicher auf den Punkt zu bringen.

Fantasy schreibt sich wie alle anderen Genres auch. Im Mittelpunkt Ihres schriftstellerischen Handelns müssen die Prinzipien guten Erzählens stehen: eine klare Sprache, ein der Story angemessener Stil, Folgerichtigkeit und Nachvollziehbarkeit, eine das Publikum fesselnde Dramaturgie. All das ändert sich nicht im Geringsten, sobald Sie sich im Genre Fantasy bewegen. Nur können Sie jetzt noch viel mehr Metaphern und Werkzeuge benutzen als in der realistischen Literatur, schließlich halten Sie sich jetzt im Genre der unbegrenzten Möglichkeiten auf. Allerdings birgt das auch Gefahren: Nur weil Sie eine Welt erfinden – der Weltenbau ist ein Thema, dem sich an Universitäten ganze Seminare mit wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit widmen – ist es nicht ratsam, dass Sie einfach tun und lassen, was sie wollen.

Was Sie erfinden, muss nachvollziehbar und übersichtlich bleiben. Weniger Phantastik und Zauber sind da oft mehr und wirksamer. Nur weil Sie Fantasy schreiben, muss da nicht in jedem Kapitel ein neues Monster oder ein weiteres Zaubererduell auftauchen. TIPP: Vermeiden Sie Übertreibungen.

Gerade Filmreihen wie die von Marvel oder DC Comics laufen in die Falle, von Mal zu Mal größere Gegner auftreten zu lassen und gewaltigere Schlachten zu schlagen. Das wirkt schnell unglaubhaft bis lächerlich. Es muss auch nicht immer gleich das Universum vor dem Untergang bewahrt werden. Goethes Faust ist schließlich auch nicht so überwältigend in seiner Wirkung, weil darin die Welt gerettet wird, sondern weil sich ein zutiefst menschliches Drama auf der Grundlage phantastischer Erzählmittel entfaltet.

TIPP Seien Sie sich darüber im Klaren, warum Sie das Genre Fantasy wählen.

Die meisten Stoffe lassen sich auch ohne übernatürliche Inhalte darstellen. Wenn Sie Übernatürliches einführen, müssen zuerst Sie als Regisseurin oder Autor wissen, aus welchem Grund Sie das erzählen. Wissen Sie das nicht, wird das Publikum es auch nicht erkennen. Und wenn Sie es einfach nur um eines billigen Effekts wegen tun, wird das Publikum das sehr wohl erkennen. Das Mitempfinden von Dingen und Umständen, das ich oben als Erfolgsfaktor für gute Fantasy genannt habe, funktioniert nur, wenn Sie Ihre Phantastik umsichtig, planvoll und dosiert einsetzen.

TIPP Und wie immer beim Schreiben gilt: Lesen Sie!

Lesen Sie Genreliteratur. Lernen Sie kennen, wie breitgefächert die Fantasy ist. Schauen Sie vor allem, was es neben den üblichen Geschichten um Elfen, Zauberer und scharfe Schwerter sonst noch gibt. Wenn Sie erfahren haben, was da alles schon erzählt wurde, werden Sie auf diesem, Ihrem Lese-Weg genug Inspirationen gesammelt haben, um genau die Geschichte erzählen zu können, die Sie der Welt präsentieren wollen.

Viel Erfolg dabei!

Frank Weinreich, im Mai 2023

Die Definition von Fantasy im zweiten Absatz ist meinem Buch Fantasy. Einführung. Essen 2007, S. 37 entnommen.

Es können keine Kommentare abgegeben werden.