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Giovenes »Autobiographie des Giuliano di Sansevero. Fremde Mächte« – Leseempfehlung

Buchcover von Andrea Giovene, Fremde Mächte

Für mich ist dieses Buch eine Entdeckung, die mich noch sehr lange gedanklich beschäftigen wird. Einzelne Szenen haben sich so bildhaft in mein Hirn eingegraben, dass ich sie immer wieder vor Augen habe. Und das hat mehrere Gründe:

Zum einen hat Andrea Giovene (1904–1995) seine eigenen Erlebnisse als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg so lebendig, so sinnlich in diesem Roman verarbeitet, wie es in dokumentarischer Form vielleicht gar nicht möglich gewesen wäre. Zweitens hat Moshe Kahn(geb. 1942) den Text so übertragen, dass es eine Freude ist, in diese variantenreiche Sprache voller feiner Nuancen einzutauchen. Und das war sicher nicht einfach für den Übersetzer, denn hin und wieder hat der Autor verschachtelte Sätze geformt, die ein sehr aufmerksames Lesen erfordern. Drittens ist dieser »Roman«, der wie ein Kriegstagebuch geschrieben ist, vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs so brennend aktuell, dass das Lesen unwillkürlich Assoziationen weckt: an Texte, Bilder, Nachrichten, die wir gegenwärtig empfangen, wenn wir die Augen nicht verschließen wollen.

Was hat mich noch gepackt? Die mir persönlich neue historische Perspektive: Nie zuvor habe ich etwas darüber gelesen, was italienische Soldaten in deutscher Gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Nachdem Italien 1943 mit den Alliierten das Waffenstillstandsabkommen von Cassibile geschlossen hatte, wurden die Italiener über Nacht von Verbündeten der Deutschen zu deren Feinden.

Und unglaublich spannend an diesem Text finde ich die innere Auseinandersetzung Giulianos, des Protagonisten: Pflichtbewusst leistet er bei Kriegsbeginn in den französischen Alpen seinen Offiziersdienst. Doch schon hier wird seine innere Zerrissenheit deutlich, wenn er nun, in der vertrauten Sehnsuchtslandschaft seiner Kindheit, als »Feind« betrachtet wird. Die rigide Zuordnung von Freund und Feind, die das, was den Menschen erst ausmacht, seine Individualität, seine Überzeugungen, seine Menschlichkeit und seine Zweifel schlicht ignoriert, irritiert Giuliano. Sie weckt seine Zweifel am Kriegsgeschehen, stellt ihn vor moralische Fragen, und diese innere Auseinandersetzung begleitet ihn bis ans Ende des Krieges.

Dieses Ende erlebt er nach vielen vorangegangen Stationen – in Italien, Griechenland, Polen und mehreren Orten in Deutschland – in Berlin. Von einem fanatischen Offizier, der gegen Kriegsende stur noch eine Handvoll Soldaten befehligt, mit nach Berlin geschleppt, wird Giuliano Zeuge des grausamen Sterbens im Feuerkessel. Wie durch ein Wunder überlebt er als Einziger der kleinen Gruppe die Kämpfe: Er taumelt schwer verletzt, aber als freier Mann, aus der Stadt hinaus über Felder, Wiesen, durch Sümpfe und Wälder seiner über 1000 Kilometer entfernten Heimat entgegen. Was Giuliano auf dieser letzten Etappe seines Leidenswegs erlebt, zeigt eindrücklich, mit welcher Wucht dieser Krieg Städte, Dörfer, Ländereien, Strukturen, Ordnungen, Familien – die ganze Zivilisation – zerstört hat. Giuliano, der sich vor Dieben, Mördern und marodierenden Banden in Acht nehmen muss und sorgsam prüft, welchen Gestalten er trauen kann, trifft eine armselige Familie wieder, der er schon einmal begegnet war. Der Anblick eines sterbenden kleinen Mädchens wird sich so nachdrücklich in seine Seele brennen, dass dieses Leiden für ihn zum Sinnbild der Sinnlosigkeit des Krieges wird.

Diesen 4. Band der fünfbändigen Autobiographie des Giuliano di Sansevero habe ich ohne vorherige Kenntnis der ersten Bände in einem Zug verschlungen. Obwohl Giovene immer wieder auf Personen und Ereignisse der früheren Bände zu sprechen kommt, ist der Band Fremde Mächte auch für sich allein gut verständlich. Dennoch werde ich nun natürlich die Lektüre der ersten Bände (1: Ein junger Herr aus Neapel; 2: Die Jahre zwischen Gut und Böse; 3: Das Haus der Häuser) nachholen.

Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero. Fremde Mächte

Aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn

Verlag Galiani Berlin

336 Seiten

Gebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen

26,- € (D) / 26,80 € (A)

ISBN: 978-3-86971-268-0

eBook: 978-3-462-31098-6

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